Vortrag
Die Provinz Westfalen im 19. Jahrhundert
Vortrag im Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena (letzte Speicherung: 16.11.2010)
von Prof. Dr. Peter Burg
Meine Damen und Herren, im Folgenden werde ich die charakteristischen Züge der preußischen Provinz Westfalen im 19. Jahrhundert vorstellen. Dazu ist auf die Ausgangslage zurückzugehen. Die Vorgeschichte der Provinz war zum Teil ‚unpreußisch’, und gerade dieser Teil, auf den sich die Aufgabe der Integration bezog, gab der Region ein spezifisches Gepräge im preußischen Staat. Am Anfang stand die Säkularisation – ein Import der Französischen Revolution. Der Reichsdeputationshauptschluss vom 26. Februar 1803 brachte für Westfalen den wahrscheinlich tiefsten Einschnitt in seiner Geschichte. Die territoriale Herrschaft von Kirche und Geistlichkeit fand ein Ende, davon waren im westfälischen Raum die Bistümer Münster und Paderborn sowie das Erzbistum Köln so wie weitere kleinere geistliche Territorien betroffen. Einer der großen Gewinner der Säkularisation war Preußen, dennoch bildeten dessen Neuerwerbungen zusammen mit den altpreußischen Gebieten der Grafschaft Mark, des Fürstbistums Minden und der Grafschaft Ravensberg noch keinen abgerundeten Territorialkomplex. Ein solcher entstand erst nach dem Wiener Kongress mit der Provinz Westfalen.
Die preußische Besitzübernahme stieß in den Bistümern Paderborn und Münster auf offene Feindseligkeit. Man lehnte die Eingliederung in einen protestantisch geprägten Staat ab, fürchtete sich vor Steuerdruck und dem preußischen Militärsystem und erwartete von einer bürokratischen Staatsverwaltung nichts Gutes. „Unter dem Krummstab lässt sich gut leben“: das war das alte, dem Untergang geweihte Lebensgefühl. „Weg mit dem alten Schlendrian“: lautete die Devise der importierten preußischen Beamten. Einen Grund zur Verstimmung gab die gleichzeitig erfolgte Vermögenssäkularisation. Preußen enteignete wie alle angeblich für linksrheinische Verluste ‚entschädigten’ Staaten eine ganze Reihe von Klöstern oder geistlichen Instituten. Geschont wurden vor allem Einrichtungen, die sich karitativen Zwecken widmeten, und der preußische Staat verwendete überhaupt den eingezogenen geistlichen Besitz weitgehend für die Ausstattung von Krankenhäusern und Unterrichtsanstalten oder andere gemeinnützige Institutionen. Die meist adeligen Familien, die die geistlichen Einrichtungen nicht zuletzt zur Versorgung von Familienangehörigen mit Dotationen und Stiftungen aus ihrem Vermögen ausgestattet hatten, werteten die Verstaatlichungen als Enteignung und unverzeihlichen Rechtsbruch.
Kein geringerer als der Freiherr vom Stein, der fast seit zwei Jahrzehnte im rheinisch-westfälischen Raum als preußischer Beamter tätig war, war mit der Eingliederung der neuen Gebiete beauftragt. Er hatte eine starke Sympathie für die Menschen und das Land seines Wirkungskreises entwickelt und suchte die Gefühle der Westfalen bei der Einrichtung der preußischen Verwaltung zu schonen und möglichst viele Beamte aus der fürstbischöflichen Zeit zu übernehmen. Die Befugnisse der Domkapitel und anderer ständischer Organe in Fragen von Politik, Gesetzgebung und Steuerbewilligung wurden allerdings aufgehoben und die preußische Behördenorganisation mit den Regierungen für die Rechtsprechung und den Kriegs- und Domänenkammern für die allgemeine Verwaltung auf die Neuerwerbungen übertragen. Stein wurde schon im Jahre 1804 nach Berlin abberufen. Sein Nachfolger wurde der – altpreußische – Westfale Ludwig Freiherr von Vincke, der Steins Organisationsarbeit in kongenialer Weise fortsetzte, auf Grund des wenig später ausbrechenden Krieges zwischen Frankreich und Preußen und der darauf folgenden Abtretung aller preußischen Westprovinzen aber keine nachhaltigen Ergebnisse mehr erzielen konnte.
Auch die napoleonische Zeit hinterließ nachhaltige Spuren in Westfalen. Von dauerhaften Folgen waren unter anderem die Reformen im Rechtswesen. Die Vorzüge des französischen Rechtes scheinen in Westfalen weitgehend anerkannt worden zu sein, so z. B. die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverfahren und die Einrichtung von Geschworenengerichten bei Kapitalverbrechen oder politischen Vergehen, die Liberalisierung des bürgerlichen Rechts, die Gewerbefreiheit und die Aufhebung aller Schranken für die freie Verfügbarkeit über das Grundeigentum. In Westfalen regte sich deshalb immer wieder Protest, wenn Rechtsverhältnisse aus den östlichen Kernprovinzen der Monarchie in die Provinz übertragen werden sollten.
Nach der „Völkerschlacht“ von Leipzig rückten im Herbst 1813 preußische und russische Truppen in Westfalen ein, während die französischen Autoritäten kampflos das Feld räumten. Der Aufruf zur Meldung als Freiwillige fand in Westfalen ein sehr unterschiedliches Echo. In den altpreußischen Gebieten war die Bereitschaft zur Kriegsteilnahme sehr groß, hingegen fanden sich in den 1803 säkularisierten Gebieten zur Enttäuschung der kommissarischen Militärbehörden nur sehr wenige Freiwillige. Dieses Verhalten grub sich tief in das Gedächtnis der Berliner Regierung ein und wurde als Gradmesser der Loyalität und Zuverlässigkeit gewertet. Die Einschätzung diente für die künftige Rekrutierung preußischer Beamter als Kriterium. Die Bevorzugung von Altpreußen bzw. die Benachteiligung von Katholiken in Westfalen und noch ausgeprägter im Rheinland hatte in diesem Urerlebnis eine wichtige Wurzel.
Die nach den Befreiungskriegen und dem Wiener Kongress gebildete Provinz Westfalen bestand aus nicht weniger als 20 vormals selbständigen Territorien. Ihr Kerngebiet war das Münsterland, d.h. das Gebiet des ehemaligen Fürstbistums Münster, mit seiner katholischen Bevölkerung, einem selbstbewussten Adel und einem auf großen Höfen lebenden Bauernstand, der das Anerbenrecht praktizierte, also Hof und Land nur an einen Nachkommen vererbte. Das ehemalige Hochstift Paderborn war im Vergleich dazu stärker durch bäuerliche Kleinbetriebe, Waldwirtschaft und Heimgewerbe in der vorindustriellen Textilproduktion geprägt, wodurch es in der Wirtschaftskrise des Vormärz ebenso wie die altpreußischen Provinzen Minden, Tecklenburg und Ravensberg zum Armenhaus Westfalens wurde. Das ehemalige Herzogtum Westfalen, das zu Kurköln gehört hatte, mit dem Verwaltungssitz Arnsberg umfasste große Teile des Sauerlandes. <Sie erkennen, nebenbei bemerkt, die Mehrdeutigkeit des Begriffs Westfalen.> Auf die Energiequellen Holzkohle und Wasserkraft gestützt, war im Sauerland eine Stahl- und Kleineisenindustrie entstanden. Die Erzvorkommen gingen allerdings allmählich zu Ende. Die dynamischste Wirtschaftsregion Westfalens war die altpreußische Grafschaft Mark mit den Industrie- und Handelszentren Iserlohn und Hagen, während Dortmund, Bochum und Essen im Vormärz noch vergleichsweise unbedeutende Ackerbürgerstädte waren und erst mit der von Süden nach Norden vordringenden Erschließung der Steinkohlenflöze im Kontext der Industriellen Revolution zu den großen Metropolen des Ruhrgebiets aufstiegen.
Mit der Integration der heterogenen Bestandteile war vorrangig der Oberpräsident Vincke betraut, der zum eigentlichen Vater der Provinz Westfalen wurde. Er war “tief durchdrungen von einem preußisch-protestantisch geprägten Westfalenbewusstsein“. Zwar entstammte er dem westfälischen Adel, aber er gehörte nicht zu den bedeutenden Grundbesitzern der Provinz und wurde namentlich vom münsterländischen Adel als oberster Repräsentant des preußischen Staates vor Ort und vielleicht auch wegen seiner protestantischen Konfession von diesem nie voll akzeptiert. Vincke hat die rudimentär vorhandenen Wurzeln eines westfälischen Gemeinschaftsbewusstseins, die er bei seinem Amtsantritt vorfand, gezielt gepflegt und auch damit dazu beigetragen, dass aus der Provinz Westfalen mehr wurde als eine bloß administrative Einheit und dass ein Identitätsbewusstsein entstand. Der Oberpräsident verstand Geschichtspflege als Mittel zur Erzeugung eines Bewussteins westfälischer Identität über landschaftliche, konfessionelle und politische Unterschiede hinweg und damit als Instrument zur Homogenisierung Westfalens.
Defizitär blieben die Aktivitäten der Provinzialverwaltung im Bereich der Unterrichtswesens, dessen unmittelbare Beaufsichtigung in kirchlicher Hand lag. Unverständlich ist, dass Vincke keinen Versuch gemacht hat, die in der napoleonischen Zeit eingegangene Universität Münster wieder aufleben zu lassen. Dass Westfalen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts die einzige preußische Provinz ohne Universität blieb, war ein gewichtiges Manko.
Neben dem Oberpräsidenten besaßen die Provinzialstände eine Zuständigkeit für die gesamte Provinz. Nachdem die Einrichtung einer preußischen Gesamtstaatsverfassung fürs erste, bis zur Revolution von 1848, gescheitert war, wurde das „Allgemeine Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände“ vom 5. Juni 1823 verabschiedet. Die Zusammensetzung der Stände unterschied sich von Provinz zu Provinz, je nach der regionalen politisch-sozialen Struktur. In Westfalen stellten die Besitzer ritterschaftlicher Güter, die Städte und die Landgemeinden jeweils 20 Mitglieder. Die Standesherren besaßen darüber hinaus jeweils eine Virilstimme, in Westfalen waren dies anfangs elf. Dass Freiherr vom Stein vom preußischen König für seine Person, nicht für seine Familie das standesherrliche Mitgliedsrecht erhielt, ist ein Sonderfall, eine Auszeichnung für seine Verdienste um den Staat. Moderne Elemente enthielt das Provinzialständegesetz insofern, als die Abgeordneten ein freies Mandat besaßen und die Beschlüsse nach der Mehrheit der Stimmen und nicht in altständischen „Kurien“ gefasst wurden.
Das Gesetz über die Provinzialstände blieb allerdings meilenweit hinter dem Standard zurück, den die süddeutschen Staaten mit ihren frühkonstitutionellen Verfassungen vorgegeben hatten, und dennoch behauptete die preußische Regierung, damit ihr vor Jahren gegebenes Verfassungsversprechen zu erfüllen. Trotz aller Einschränkungen seines Wirkungskreises hat der Provinziallandtag sicherlich das Zusammenwachsen der heterogenen Territorien der Provinz Westfalen gefördert.
In der Regel behandelten die preußischen Provinziallandtage die gleichen Themen und formulierten ihre Stellungnahmen zu den Regierungsvorlagen in Landtagsabschieden. Protokolle und Abschiede ermöglichen eine Rekonstruktion des Meinungsbildes der acht preußischen Provinzen zu bestimmten Sachfragen. Damit bietet sich für eine vergleichende regionalgeschichtliche Betrachtung eine gute Quellengrundlage, die bis heute nicht einmal in Ansätzen ausgewertet worden ist. Aufgrund seiner mageren Kompetenz und seines geringen historisch-politischen Ansehens wird die Geschichte der Provinzialstände ohnehin stiefmütterlich behandelt.
Konflikte im Westfälischen Provinziallandtag, die an die Öffentlichkeit drangen, fehlten nicht, etwa anlässlich der Einforderung der preußischen Gesamtstaatsverfassung oder der Anlage von Katasterunterlagen. Sie waren aber nicht vergleichbar mit den konfessionellen Konflikte, die die Öffentlichkeit erschütterten und das Gesicht der Provinz prägten. Die Konflikte erwuchsen aus dem konkreten Zusammenleben von Katholiken und Protestanten. Bei der Gründung der Provinz Westfalen waren rund 55,5 Prozent der Einwohner katholischen, 39,5 Prozent evangelischen. Von den übrigen waren allen die 1 Prozent Einwohner jüdischen Glaubens noch von einer gewissen Relevanz. Ausgerechnet aus der menschlichen Nähe von Einwohnern unterschiedlicher Konfession sollten Probleme erwachsen.
Nachdem die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in organisatorischer Hinsicht befriedigend geklärt waren, belastete der „Mischehenstreit“ den inneren Frieden zwischen dem preußischen Staat und dem katholischen Teil seiner Bevölkerung schwer und nachhaltig, denn hier begegnen uns die Anfänge des politischen Katholizismus. Zu den verwickelten Regelungen: Nach den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts von 1794 waren bei Ehen von Partnern unterschiedlicher Konfession die Söhne in der Religion des Vaters, die Töchter in derjenigen der Mutter zu erziehen. Es gab des Weiteren eine Deklaration aus dem Jahre 1803, nach welcher alle Kinder in der Religion des Vaters erzogen werden mussten, und auch das napoleonische Recht bestimmte, dass allein der Vater über die Religionszugehörigkeit der Kinder entschied.
Langwierige Verhandlungen zwischen dem Staat, der Kurie und den preußischen Bischöfen über die Mischehenfrage führten schließlich zur Berliner Konvention vom 19. Juni 1834, die im Kern jedem Geistlichen die Entscheidung überließ, ob er eine Ehe von Partnern unterschiedlicher Konfession feierlich einsegnen oder sich auf eine Rolle „passiver Assistenz“ beschränken wollte, wenn ihm die Absicht der Brautleute bekannt war, ihre Kinder im evangelischen Glauben zu erziehen. Die Bischöfe von Münster, Paderborn und Trier erklärten ihre Zustimmung zu diesem vom Erzbischof von Köln ausgehandelten Kompromiss. Die Konvention wurde geheim gehalten, um die Chancen für ihre stillschweigende Duldung zu erhöhen.
Dieser Kompromiss ließ sich jedoch nicht mehr aufrechterhalten, sobald der prinzipientreue Clemens August von Droste-Vischering 1835 Erzbischof von Köln geworden war und eine schärfere Praxis in der Mischehenfrage forderte. Er hatte zwar vor der Bestätigung seiner Wahl durch den Staat die Beachtung der Berliner Konvention zugesagt, berief sich jetzt aber auf ein päpstliches Breve vom März 1830, das seiner Meinung nach beim Abschluss der Konvention nicht hinreichend berücksichtigt worden war. Der Konflikt eskalierte, bis sich die Regierung im November 1837 entschloss, den Erzbischof seines Amtes zu entheben und ihn in der Festungsstadt Minden in einem Bürgerhaus zu internieren. Das Kölner Domkapitel nahm diese Zwangsmaßnahme widerspruchslos hin, und auch die Öffentlichkeit blieb zunächst ruhig. Lediglich der rheinische und westfälische Adel engagierte sich für den Erzbischof. Er sandte eine Deputation nach Berlin, die jedoch auf schroffe Ablehnung stieß.
Zu einem Gegenstand lebhaftester öffentlicher Diskussion wurde das „Kölner Ereignis“ erst durch den rheinischen Publizisten Joseph Görres. Er verurteilte die preußische Haltung in der Mischehenfrage aufs schärfste und wurde jetzt zum leidenschaftlichsten Sprecher der Interessen der katholischen Kirche. Er entfachte einen politischen Streit, der in Hunderten von Schriften ausgetragen wurde, und der auch in diplomatischen Kreisen des Auslands, besonders in Belgien und Frankreich, lebhaften Widerhall fand. Offenbar hatte Görres einen empfindlichen Nerv der öffentlichen Meinung getroffen. Der münsterländische Adel boykottierte jetzt offizielle Festlichkeiten und besuchte stattdessen den in Minden internierten Erzbischof. Preußische Beamte wurden gesellschaftlich ignoriert. Einzelne Adelige verließen den preußischen Staatsdienst. Die Protestwelle erfasste auch das Bürgertum, das sich jetzt in wachsender Zahl an religiösen Manifestationen wie z. B. Prozessionen beteiligte. Vereinzelt kam es auch zu antipreußischcn Demonstrationen.
Nach dem Thronwechsel von 1840 lenkte der preußische Staat in der Mischehenfrage ein. In einem Abkommen aus dem Jahre 1840 legte er die Behandlung der Mischehen in die freie Verantwortung der Bischöfe. Die Wogen glätteten sich zwar, doch die Wunden, die das „Kölner Ereignis“ aufgerissen hatte, sollten später durch den „Kulturkampf“ nach der Reichsgründung wieder aufgerissen werden.
Der Konflikt zwischen Staat und Kirche führte zu Meinungskämpfen, spaltete die Gesellschaft aber nur eingeschränkt. Hier standen den divergierenden Kräften integrierende gegenüber. So besaß die Literatur einen Einfluss auf das Westfalenbewusstsein. Kein Name verbindet sich mehr mit westfälischer Literatur als der von Annette von Droste-Hülshoff. Ihr Leben und Werk sind verankert in Westfalen, genauer im Münsterland, erklären sich aber nicht aus Zeitgeschmack und Provinzialität. Ihr künstlerisches Erbe ist Teil der Weltliteratur, was von der übrigen westfälischen Literaturszene nicht gesagt werden kann. Dieser kommt jedoch Bedeutung für die Entwicklung eines regionalen Identitätsbewusstseins zu. In Geschichte und Natur wurden Elemente der Selbstfindung gesucht. Einer besonderen Pflege erfreute sich der bereits Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommene Hermannskult. In Westfalen fand das für das deutsche Nationalbewusstsein insgesamt bedeutsame Thema einen besonderen Anklang. Im Jahre 1875 wurde nach zahlreichen literarischen Aufarbeitungen das Hermannsdenkmal bei Detmold im Teutoburger Wald eingeweiht. Das sieben Meter lange Schwert trägt die Inschrift: “Deutsche Einigkeit meine Stärke – meine Stärke Deutschlands Macht”.
Karl Leberecht Immermann, ein gebürtiger Magdeburger, wurde zum Vorbild einer stammestümelnden patriotischen Heimatkunst. Der Jurist stand in Kontakt mit den romantischen Schriftstellern Friedrich de La Motte Fouqué und Ludwig Tieck. Besonders wirksam wurde sein in der Soester Börde spielender Münchhausenroman, der als Westfalenroman schlechthin gilt. Die Popularität fußte auf dem darin enthaltenen Oberhofteil, der in den Jahren 1861 bis 1931 in 85 separaten Ausgaben aufgelegt wurde. Darin wird das soziale Gefüge eines großen westfälischen Bauernhofes idealisierend gezeichnet. Von diesem Romanteil ging die Anregung für Freiligraths Konzept zum “Malerischen und romantischen Westphalen” aus, das eine prägende Wirkung für das deutsche Westfalenbild und das westfälische Selbstverständnis besaß.
In der Revolution von 1848/49 traten alte und neue Bruchlinien in der Provinz Westfalen auf. Der Typus agrarischer Konflikte stellte bis dahin auffallendes Merkmal dar. Doch jetzt war „nächst Schlesien Westfalen die preußische Provinz mit den meisten Bauernunruhen“. Je nach den lokalen Verhältnissen ging es dabei um das Verhältnis zwischen Bauern und Grundherren, um die Gemeinheitsteilungen, die nach Ansicht der ländlichen Unterschichten rückgängig gemacht werden sollten, und um das Jagdrecht. Dazu kamen die Forderungen nach Steuersenkung, nach autonomer Festsetzung der Kommunalsteuern und Stärkung der Selbstverwaltung durch freie Wahl von Amtmännern und Landräten. Exzesse gegenüber unbeliebten Beamten und herrschaftlichen Rentmeistern waren an der Tagesordnung. Die sozialen Spannungen zwischen besitzenden Bauern und landloser Unterschicht boten zusätzliches Konfliktpotential.
Der Zorn der Bauern richtete sich nicht nur gegen die Grundherren, sondern auch gegen die „Wucherer“, bei denen sie Kredite zum Landerwerb, zur Entschuldung, für die Ablösung von Lasten oder zur Befriedigung von Erbansprüchen aufgenommnen hatten. Kreditgeber wurden zum Ziel gewalttätiger Ausschreitungen. Dies waren vor allem Vieh- und Getreidehändler, die in engem Kontakt zur ländlichen Bevölkerung standen. Ein ungerechter Zorn richtete sich vor allem gegen die Juden unter den Geldgebern, und so kam es während der Märzunruhen auch zu antisemitischen Ausschreitungen. Sie sind für mindestens zwölf Orte belegt.
Handelte es sich hier um temporäre Konfliktlinien, so meldete sich mit den konfessionellen Divergenzen gewissermaßen ein Dauerbrand zu Wort. Bei den Wahlen zur deutschen und zur preußischen Nationalversammlung betrieb die katholische Kirche die Orgisierung ihrer Wählerschaft mit besonderem Nachdruck. Am 28. März war in Mainz ein erster „Pius-Verein für religiöse Freiheit“ gegründet worden, um die Anliegen der katholischen Kirche in den verfassungspolitischen Auseinandersetzungen der Revolutionszeit vertreten zu können. Nach dem Mainzer Aufruf breiteten sich die Piusvereine auch in Westfalen sehr schnell aus. Am 13. April entstand in Münster ein „Katholischer Verein“ (später umbenannt in Piusverein), und Münster und Paderborn wurden zu Zentren des katholischen Vereinswesens in Westfalen. Die Bischöfe riefen dazu auf, nur solche Männer zu wählen, von deren Frömmigkeit und Gewissenhaftigkeit sie überzeugt seien, und die örtliche Geistlichkeit engagierte sich für die Gründung lokaler Piusvereine und für die Umsetzung der bischöflichen Wahlempfehlungen. So ging die katholische Kirche als einzige gesellschaftliche Kraft mit einer parteiähnlichen Organisation 1848 in die Maiwahlen hinein.
Unter den westfälischen Abgeordneten in der deutschen Nationalversammlung waren die Geistlichen sowie die Richter und beamteten Juristen sehr viel stärker vertreten als im Durchschnitt der Abgeordneten, schwächer hingegen die Lehrberufe, die Verwaltungsbeamten und vor allem die freiberufliche Intelligenz. Sie schlossen sich überwiegend den Fraktionen der Mitte, vor allem dem rechtsliberalen Zentrum, der Fraktion „Casino“ an, die auf Grund ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrer parlamentarischen Schlüsselstellung die Gestalt der Reichsverfassung weitgehend bestimmen konnte. Die Wahl des Erzherzogs Johann von Österreich zum provisorischen Staatsoberhaupt Deutschlands („Reichsverweser“) wurde in Westfalen lebhaft begrüßt und stärker gefeiert als im übrigen Preußen.
Bei der Frage nach signifikanten Merkmalen der Provinz Westfalen muss man den Bereich der Politik verlassen und kann auch nicht nur nach Konfliktzonen Ausschau halten. Dadurch könnte ein so wichtiger Prozess wie die Industrialisierung aus dem Blick geraten, die auch die überwiegend agrarisch strukturierte Region erfasste. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Westfalen infolge der Industrialisierung von einem wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandel größten Ausmaßes ergriffen und verändert. Aus dem romantisch verklärten „Land der roten Erde“ entstand innerhalb weniger Jahrzehnte in einer zunehmend an Dynamik gewinnenden Entwicklung das bedeutendste Zentrum der Schwerindustrie in Europa, das „Ruhrgebiet“. Die Ballungszentren verlagerten sich aus den Bistums- und Verwaltungssitzen in Großstädte und Industriemetropolen wie Dortmund, Bochum oder Essen. Es begann ein Prozess der Verstädterung und Urbanisierung, kleine Orte wurden innerhalb von wenigen Jahrzehnten zu Städten beträchtlichen Ausmaßes.
Die Nachfrage nach Arbeitskräften führte zunächst Menschen aus den angrenzenden ländlichen Regionen in die industriellen Zentren, später wurden auch Arbeiter aus den östlichen Provinzen des deutschen Reiches angesogen, die häufig polnischer Abstammung waren. Aus den unterschiedlichsten demographischen Elementen entstand das „Ruhrvolk“, während sich gleichzeitig aus bescheidenen Anfängen heraus eine neue großbürgerliche Schicht von Industriellen, Unternehmern und Kaufleuten entwickelte, für welche die Familie Krupp das herausragende Beispiel ist. Zwar gab es auch in den 1850er Jahren noch einmal eine Welle der Auswanderung nach Übersee, besonders nach Nordamerika, aber die drängendsten sozialen Probleme des Vormärz wie massenhafte Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Pauperismus, Hunger, Krankheiten und Not sollten doch innerhalb einer Generation weitgehend verschwinden.
Die Industrialisierung mit ihren tief greifenden Folgen hat die beiden westlichen Provinzen Preußens – Rheinland und Westfalen – enger miteinander verbunden als es gemeinsame geschichtliche Erinnerungen vermochten. Wirtschaftskraft und Bevölkerungsdichte, ein Drittel der Bevölkerung auf einer Fläche von weniger als einem Sechstel des Staatsgebietes, haben ihnen zunehmendes Gewicht innerhalb Preußens gegeben. Gleichzeitig ist vom Westen aus seit der Mitte des Jahrhunderts bürgerliches Gedankengut in den Osten gedrungen und hat Einfluss sowohl auf die ökonomische als auch auf die politische Willensbildung gewonnen.
Der Einfluss betraf aber mehr die preußische Innen- als die Außenpolitik. Außenpolitisch baute sich im Westen der Monarchie in den Einigungskriegen ein neuer Konflikt. Die kleindeutsche Lösung der nationalen Frage stieß in den preußischen Westprovinzen auf wenig Gegenliebe. Die Kriegsvorbereitung gegen Österreich rief eine heftige Opposition auf den Plan, die sich vor allem an der Person des preußischen Ministerpräsidenten rieb. Liberale Stadtverordnetenversammlungen in Rheinland und Westfalen forderten dessen Entlassung, die „Rheinische Zeitung“ wollte ihm „keinen Mann und keinen Groschen“ bewilligen. Nicht nur der katholische Adel, auch die katholischen Mittelschichten Westfalens waren Gegner Bismarcks und seiner Deutschlandpolitik, die zunächst nur Norddeutschland unter preußische Vorherrschaft bringen und damit die mehrheitlich katholischen Gebiete Süddeutschlands und vor allem Österreich ausschließen wollte.
Nach Bismarcks Reichsgründung wandelte sich die Beziehung zwischen Staat und Kirche allgemein, insbesondere aber zwischen dem preußischem Staat und der Katholischen Kirche. Die Beziehungen zwischen dem Staat und der katholischen Bevölkerung im Rheinland und in Westfalen wurden durch den so genannten „Kulturkampf“ (ein von Rudolf Virchow 1873 geprägter Begriff) stärker als in anderen deutschen Staaten und in den anderen preußischen Provinzen belastet. Er wurde von Preußen mit bürokratischer Härte durchgeführt. Bayern zog sich aus ihm alsbald wieder zurück und in Hessen und Baden nahm er gemäßigtere Formen an.
In Westfalen wurde der Kulturkampf offenbar mit größerer Verbissenheit ausgefochten als in den anderen preußischen Provinzen. Dies lag in erster Linie am Oberpräsidenten Friedrich von Kühlwetter, der zwar Katholik war, den „Ultramontanismus“ und jede Form von Einmischung der katholischen Kirche in öffentliche Angelegenheiten jedoch zutiefst verabscheute. Mit seiner übertrieben strengen, zum Teil kleinlichen und bis ans Lächerliche gehenden Ausführung der Kulturkampfgesetze weckte er die alten antipreußischen Ressentiments zu neuem Leben. Das natürliche Rechtsgefühl der Westfalen empörte sich gegen die ungerechte Unterdrückung ihrer Kirche, und die staatliche Offensive traf überdies mit einer in Westfalen besonders lebendigen kirchlichen Erneuerungsbewegung zusammen. Im Rheinland und in Westfalen bewirkte der Kulturkampf eine durchgreifende Umschichtung der politischen Strukturen. Er warf tiefe Gräben auf und erzeugte rund zwei Jahrzehnte lang eine nahezu unversöhnliche Frontstellung zwischen Katholizismus und Preußentum.
In der Provinzialhauptstadt Münster spitzten sich die Auswirkungen des Kulturkampfes besonders zu. Er erreichte seinen Höhepunkt im Jahre 1875, als der „Bekennerbischof“ Bernhard Brinkmann vorübergehend verhaftet und anschließend einem Amtsenthebungsverfahren unterworfen wurde. Der Bischof entzog sich einer erneuten Verhaftung durch Flucht ins Exil nach Holland. Die Diözesanverwaltung stellte ihre Tätigkeit ein. In Paderborn war Bischof Martin schon im August 1874 verhaftet und im Januar 1875 für abgesetzt erklärt worden. Er floh im August 1875 aus der Festungsstadt Wesel über die Niederlande nach Belgien, wo er vier Jahre später verstarb.
Das Vorgehen des Staates gegen die Bischöfe löste eine Welle demonstrativer Kundgebungen der Loyalität und der Solidarität in allen Bevölkerungskreisen aus, unter denen eine Adresse von 50 Damen des Münsterschen Adels vom Februar 1874 selbst im Ausland Aufsehen erregte. Die Kundgebungen zugunsten der Bischöfe nahmen teilweise den Charakter von Massendemonstrationen an. Einen organisatorischen Rückhalt der katholischen Opposition bildeten in Westfalen zahlreiche lokale „Volksvereine“, die in der Rheinprovinz nicht die gleiche Bedeutung besaßen. Der Zusammenhalt des Kirchenvolkes mit seinen Oberhirten war nicht zu brechen, er wurde vielmehr durch den Kulturkampf noch gestärkt. Man kann davon ausgehen, dass die Verbundenheit westfälischer Bauern und Arbeiter mit dem Geistlichen ihres Ortes sehr groß gewesen ist und dass es für diese eine unerträgliche Vorstellung war, Taufe, Hochzeit und Beerdigung ohne geistlichen Beistand zu erleben und auf den sonntäglichen Empfang der Heiligen Kommunion verzichten zu müssen. Wenn man bedenkt, dass um 1880 rund 40 Prozent der westfälischen Pfarreien verwaist waren, kann man die Tragweite dieser Problematik ermessen.
Je länger der Kulturkampf dauerte, desto mehr wurde der preußischen Regierung deutlich, dass sie sich in eine Sackgasse verrannt hatte. Die enge Bindung an die liberalen Parteien des Reichstags, die die Kulturkampfgesetzgebung ermöglicht hatte, wurde Bismarck unbehaglich, und an der Kurie war 1878 mit Leo XIII. ein Papst gewählt worden, der sein persönliches Prestige nicht mit der konsequenten Durchfechtung der Kulturkampfpositionen verband. So flaute der Kulturkampf seit 1878 allmählich ab. In Westfalen konnten die Gläubigen es daran sehen, dass der im Exil verstorbene und zunächst nur heimlich nach Paderborn überführte Bischof Martin feierlich im Dom beigesetzt werden durfte. Dass Kaiser Wilhelm I. im Jahre 1884 Münster besuchte (und in allen Formen geziemender Höflichkeit empfangen wurde), lässt sich als Geste der Versöhnung interpretieren.
Dennoch sind bleibende Wirkungen festzustellen. Der Kulturkampf führte dem Zentrum die katholischen Wähler Rheinland-Westfalens in hellen Scharen zu. Mehr als in den katholischen Gebieten Süddeutschlands gelang es dem Zentrum, die katholische Wählerschaft zu mobilisieren, unterstützt durch den Klerus, der eine Wahlentscheidung zugunsten dieser Partei zur Glaubensfrage machte. Lag der Anteil der Partei bei den Reichstagswahlen von 1871 in Deutschland bei 9,5 %, so errang sie in Rheinland-Westfalen 24,4 %. Bei den Reichstagswahlen 1871 bis 1912 lag der Zentrumsanteil reichsweit bei 14 %, während er in Rheinland-Westfalen im Mittel bei 34,8 % lag. Ihren Rückhalt fand die Partei vornehmlich in den ländlich-kleinstädtischen Gebieten. Erst in den 1890er Jahren sahen sich die rheinischen und westfälischen Katholiken sowie deren politischer Zusammenschluss, die Zentrumspartei, als staatstragende Kräfte hofiert. Dies erleichterte ihre Integration in den preußisch-deutschen Staat.
Mit dem Rückhalt der katholischen Bevölkerungsanteile Westfalens konnte das Zentrum bis zum Ende des Kaiserreiches und darüber hinaus eine beherrschende Rolle im politischen Leben des katholischen Westfalen spielen. Dabei half ihm das gesamte katholische „Milieu“, d. h. der Klerus, Handwerker- und Gesellenvereine, christliche Gewerkschaften, Bauernvereine und andere gesellschaftliche Vereinigungen aller Art. Zur eigentlichen Basisorganisation des Zentrums wurde der 1890 gegründete „Volksverein für das katholische Deutschland“. Politisch hatte der Kulturkampf bewirkt, dass die Partei des Zentrums nicht nur gestärkt, sondern fortan fest etabliert war. Der Ultramontanismus führte zur Begründung der christlichen Demokratie in Deutschland, die von Anfang an weniger nationale als europäische Wurzeln hatte. Das Zentrum wurde für die nächsten 60 Jahre ein bestimmender Faktor des deutschen Parteiensystems.
Aufs Ganze gesehen muss man, resümiert man die vorgetragenen Beobachtungen, die Tendenzen der Divergenz und der Vereinheitlichung jeweils relativieren.
Die zentripedalen Kräfte waren stets stärker als die zentrifugalen. Die zentrifugalen Kräfte steigerten sich nie bis zu einer separatistischen Bewegung. Der rheinische Separatismus begegnet als historisches Phänomen, aber nicht ein westfälischer. Zweifellos gab es Nuancen zwischen den preußischen Provinzen im Hinblick auf die Akzeptanz der Hohenzollernherrschaft. Westfalen ist dabei eher in der Mitte anzusiedeln. Das Zugehörigkeitsgefühl war selbstverständlich nicht so stark wie im Kernland, aber wohl stärker als im Rheinland oder in den neuen Provinzen Hannover, Schleswig-Holstein, Hessen-Nassau. Die Anhänglichkeit an das Reich war größer als die an Preußen. Der Kaiser war eine Integrationsfigur für beide Ebenen. Doch diese Figur verschwand mit dem Kaiserreich. Westfalen ist darüber hinaus – bis zum heutigen Nachfolger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe – als eine Einheit erhalten geblieben. Doch nicht mehr unangefochten. Seit der Industriellen Revolution besitzt das Ruhrgebiet eine Sprengkraft für die alten Provinzen. Dieses homogene Städtekonglomerat konnte bis jetzt die alten Gemäuer noch nicht zum Einsturz bringen, das Thema einer Verwaltungsneugliederung zu Lasten der alten Provinz kommt jedoch gleichfalls nicht zur Ruhe.
Mittwoch 12. Januar 2022 um 23:45
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